Deutschland ging es wirtschaftlich sehr gut in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts: Die Brüder Brülle gehörten zum Großbürgertum, das in dem starken und wehrhaften Staat gefördert wurde. Deutschland war damals auch ein Land der Gegensätze: In jener Zeit entstand das Industrieproletariat, es gab viele einfache Arbeiterfamilien, die kaum genug zum Leben hatten. In Lippstadt war von diesen Spannungen allerdings nicht so viel zu spüren wie in ausgesprochenen Industriegebieten. Hier in der vormals durch die Landwirtschaft geprägten Stadt hatten viele Arbeiter noch zusätzlich einen kleinen Kotten und einen Acker, den sie nach der Arbeit bewirtschaften konnten.
Die Firma Brülle & Schmeltzer erlebte die Spannungen, die die Weltpolitik und das Zeitgeschehen mit sich brachten. Sie mussten ihre Tätigkeit den Marktschwankungen anpassen und sich mit der in- und ausländischen Konkurrenz auseinandersetzen. Die Lage war unsicher. Man glaubte, ihr mit militärischer Hochrüstung begegnen zu müssen. In Lippstadt wurde 1902 an der Cappeler Landstraße die Artilleriewerkstatt gebaut, einer der modernsten Industriebauten der Stadt, die erheblich zur Aufrüstung beigetragen hat.
Die friedliche und wirtschaftlich sehr positive Entwicklung in Lippstadt wurde jäh durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, der zwar der Industrie und dem Handel zunächst einen noch stärkeren Auftrieb bescherte, aber später auf fast allen Gebieten Stillstand und Rückgang zur Folge hatte.
Der junge Friedrich Brülle kam in den Genuss einer hervorragenden kaufmännischen Ausbildung: Nach dem Besuch der Volksschule und dem Abschluss des Realgymnasiums mit der Obersekunda-Reife verbrachte er zur Vervollkommnung seiner französischen Sprachkenntnisse fast ein Jahr in Brüssel. Anschließend erlernte er den Kaufmannsberuf 1910/11 in Düsseldorf bei der Getreide Commission AG. Bis 1913 blieb er bei diesem Unternehmen – allerdings am Zweitsitz in Hamburg. Bei Ausbruch des Krieges befand er sich zur Ausbildung bei der Rheinisch-Westfälischen Bank in Hamm.
Als im Herbst 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ging das Leben in der Heimat zunächst weiter wie bisher. Sehr bald aber sahen sich die Kolonialwarengroßhandlungen vor Versorgungsschwierigkeiten gestellt, die nur mit staatlichem Einfriff geregelt werden konnten. Der Importhandel aus anderen Ländern der Erde war weitgehend lahm gelegt. Im Verlauf des Krieges spielten die Großhändler dann immer mehr die Rolle der Verteiler. Versorgungsengpässe, Nahrungsmittelknappheit, Zwangsbewirtschaftung und eine Bezugsscheinsystem gehörten zum Alltag. Sogar die Selbstversorger auf dem Lande klagten aufgrund hoher Abgabepflicht von Landprodukten über Nahrungsmittelknappheit, allerdings konnte auf dem Lande von einer echten Notlage, wie sie in vielen Städten herrschte, nicht die Rede sein.
Viele Güter, z.B. Schuhe und Kleider, waren kaum noch zu bezahlen. Im Tausch gegen Lebensmittel aber war fast alles zu haben. Die Stimmung der Bevölkerung wurde spätestens deit dem Hungerwinter 1916/17 immer gedrückter. Die Friedenssehnsucht wuchs, je länger der Krieg dauerte. Gegenüber Staat und Verwaltung, vor allem gegenüber den örtlichen Verwaltungsstellen, die mit der Erfassung landwirtschaftlicher Erzeugnisse und der Lebensmittelverteilung zu tun hatten, stieg die Verbitterung.
Aber nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht war die Familie Brülle vom Krieg betroffen. Als der Krieg begann, ging eine Welle der Begeisterung durchs Land, viele Soldaten gingen mit großen Erwartungen in den Kampf, von dem sie sich manche Abenteuer versprachen. So auch Friedrich Brülle, der zu Kriegesbeginn 23 Jahre alt war und sich als “Einjährig-Kriegsfreiwilliger” meldete. Im August 1914 kam er zum 1. Rekr. Depot F.A.R. 44 nach Trier. Dass der Krieg vier Jahre dauern würde, hatte keiner der jungen Soldaten für möglich gehalten. Friedrich Brülle wurde im April 1916 zum Leutnant d.R. beördert. Er stand bis 1917 in Frankreich, später im Baltikum und Rumänien. Von dort kam er wegen Paratyphus ins Lazarett. Im November 1918 wurde er hochdekoriert aus der Armee entlassen.
Welche Folgen der Krieg für die Entwicklung der Stadt Lippstadt hatte, zeigten eindrücklich die Zahlen der Bevölkerungsstatistik. Die Geburtenziffer sank während des Krieges, 1917 war sie auf dem vorerst tiefsten Stand gesunken – 45% unter dem Stand des letzten Vorkriegsjahres. Auf der anderen Seite war die Sterblichkeit wesentlich größer als 1913, auch wenn man die Kriegstoten – insgesamt 403 Lippstädter ließen im Krieg ihr Leben – davon abrechnet. Die Sterblichkeit war im letzten Kriegsjahr am größten, sie übertraf die Zahl der Geburten um mehr als ein Drittel. Obwohl die Belegschaft der Artilleriewerkstatt ganz erheblich angewachsen war und eine Erweiterung des Werkes durch die Abholzung des angrenzenden Teils des Stadtwalds vorbereitet wurde, war die Einwohnerzahl nur wenig gestiegen. 1913 hatte sie 17.000 erreicht, 1919 betrug sie 17.800. Die Zeit des schnellen Wachstums war vorbei.
1916 geriet das deutsche Kaiserreich immer mehr in Bedrängnis, der Krieg war aus Staatsmitteln kaum noch zu finanzieren: Die Bürger wurden aufgerufen, Schmuck, gold und Wertsachen abzugeben, um so die Kriegskasse zu füllen und eine Inflation zu verhindern. Auch die Familie Brülle trug ihren Teil dazu bei, vor allem durch Kriegsanleihen.
Der Handel konnte kaum noch von Tag zu Tag disponieren. Wer am Morgen noch zwei Waschkörbe voll Papiergeld, Millionen, Milliarden, Billionen zuletzt zur Bank trug, wusste nicht, ob er am Abend noch den gleichen Gegenwert dafür erhalten würde. Ein Hering, der morgens noch 100.000 Mark kostete, würde vielleicht am Abend für 250.000 Mark gehandelt. Durch den Krieg war zwangsläufig die Spartätigkeit bei den Banken und Sparkassen angeregt worden: Wo es wenig zu kaufen gab – und wenn, dann nur gegen Bezugsmarken – wurde das Geld zu den Banken gebracht. In welchem Ausmaß das geschah, zeigt die Bilanz der Städtischen Sparkasse: Im Laufe des Jahres 1913 hatten sich die Einlagen um 300.000 Mark auf 14,8 Millionen Mark erhöht, Anfang 1919 beliefen sich die Guthaben auf fast 27 Millionen Mark. Aber mit der Sicherheit für diese gesparten Gelder sah es schlecht aus: Ein Drittel der Einlagen, elf Millionen Mark, war in Schuldverschreibungen des Reiches und der Länder, also praktisch in Kriegsanleihen, angelegt und damit nach dem verlorenen Krieg so gut wie wertlos. Mit dem Steigen der Preise wurden die Guthaben aber immer wertloser, Ende 1921 bezahlte man bereits für ein Pfund Schweinefleisch 30 Mark, zwei Jahre später zwei bis 3 Billionen Mark.
Wie Deutschland und die Brüder Brülle durch die Zeit der Inflation und die ersten Nachkriegsjahre gehen, lest ihr beim nächsten Mal.